Industrie bis 2045 klimaneutral gestalten

Wuppertal Institut zeigt in einer gemeinsamen Studie mit Prognos und dem Öko-Institut einen möglichen Pfad zur Klimaneutralität auf

  • News 25.06.2021

Noch vor wenigen Jahren galt die Industrie in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion als "Hard to Abate"-Sektor, in dem Klimaneutralität nur schwer zu erreichen ist. Mit der neuen Studie "Klimaneutrales Deutschland 2045" zeigen das Wuppertal Institut, Prognos und das Öko-Institut, wie in Deutschland die von der Bundesregierung kürzlich angepassten Klimaschutzziele erreicht werden können und wie Deutschland bis 2045 treibhausgasneutral werden kann. Doch wie lassen sich die Emissionen bis 2030 um 65 Prozent gegenüber 1990 reduzieren und welche Rolle spielt dabei die Industrie?
Die nun erschienene Langfassung der Studie wurde im Auftrag der Stiftung Klimaneutralität sowie von Agora Energiewende und Agora Verkehrswende erstellt und ergänzt die Kurzfassung aus Mitte April um mehr Details und Hintergründe. Die Studie zeigt deutlich, dass die Industrie nicht nur maßgeblich zur Zielerreichung beitragen kann, sondern sogar vorangehen kann. "Wir wissen heute, dass Treibhausgasneutralität in der Industrie möglich ist und mit dem richtigen Maßnahmenmix sogar negative Emissionen erreichbar sind. Das ist machbar, gleichwohl bleibt die Aufgabe einer klimaneutralen Produktion in der Umsetzung anspruchsvoll", sagt Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick, wissenschaftlicher Geschäftsführer des Wuppertal Instituts.

Auf die Industrie, für deren Bearbeitung das Wuppertal Institut im Projekt verantwortlich war, kommen im Rahmen des erarbeiteten Szenarios mehrere zentrale Aufgaben zu: Zum einen ist sie Vorreiter bei der schnellen Einführung von CO2-armem Wasserstoff, von dem 2030 bereits 30 Terawattstunden in der Stahl- und Chemieindustrie eingesetzt werden. Um einen schnellen Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft zu erreichen, sieht das Szenario für 2030 einen Mix aus grünem und blauem Wasserstoff vor, bis 2045 wird der blaue jedoch vollständig durch grünen Wasserstoff verdrängt. Zum anderen sind die kontinuierlich laufenden und räumlich sehr konzentrierten Industrieprozesse prädestiniert für den Anschluss an eine schlanke CO2-Infrastruktur, mit der langfristig Netto-Negativemissionen erreicht werden können. Diese sind in einem bestimmten Umfang nötig, um Treibhausgase in der Landwirtschaft zu kompensieren, die sich technisch kaum vermeiden lassen, sondern nur mit radikalen Änderungen der Ernährungsgewohnheiten.

"Nach 2040 wird die Industrie in unserem Szenario zur CO2-Senke", betont Clemens Schneider, Senior Researcher im Forschungsbereich Sektoren und Technologien am Wuppertal Institut und Leiter des Teilprojekts. Die Studie macht außerdem deutlich, wie die Kohlenstoffströme in der Industrie langfristig in Kreisläufe geführt werden können und grüner werden. Auch die CO2-Abscheidung und Speicherung bei der Verwendung von Biomasse (BECCS ) spielt eine wichtige Rolle: "Durch die räumlich sehr konzentrierte Verwendung von Biomasse aus nachhaltiger Produktion in Deutschland lässt sich dessen energetische Verwendung mit einer geologischen Speicherung von CO2 verbinden", ergänzt Schneider. Voraussetzung sei, dass in Deutschland zwischen 2030 und 2045 ein CO2-Pipelinenetz aufgebaut werde, das die industriellen Schwerpunkte in Deutschland untereinander und mit Hafenstandorten verbindet, von wo aus sie einer Offshore-Speicherung zugeführt werden.

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Erschließung von etwa 50 industriellen Standorten ausreichen und damit kein verzweigtes CO2-Pipelinesystem notwendig sein wird. Allerdings bleibe die Infrastrukturaufgabe signifikant, da in dem Zeitraum 2030 bis 2045 im Mittel jedes Jahr eine zusätzliche Abscheideleistung von über drei Millionen Tonnen aufgebaut werden müsste. Gerade gegenüber dem alten Ziel der Bundesregierung mit Klimaneutralität im Jahr 2050 bedeute dies noch einmal eine deutliche Beschleunigung.
Ein weitere Besonderheit der Studie ist die intensive Begutachtung der Kunststoffindustrie. Durch die Verwendung fossiler Rohstoffe ist sie heute eine maßgebliche Quelle für CO2-Emissionen. Werden die Emissionen am Ende des Lebenszyklus durch Verbrennung des Abfalls einbezogen, so geht es um jährlich etwa 50 Millionen Tonnen CO2.

Neben der Nutzung von Kunststoffabfällen und damit einem stärkeren Schließen der Kohlenstoffkreisläufe in dem Sektor, kommt auch dem Import von klimaneutral hergestellten Vorprodukten eine wichtige Rolle zu. Dabei wird angenommen, dass hierdurch sogar negative Emissionen entstehen, sofern die Produkte aus regenerativ hergestelltem Wasserstoff und CO2 gewonnen werden, was über Technologien des Direct Air Capture, also einem Verfahren zur Gewinnung von CO2 direkt aus der Umgebungsluft, zuvor aus der Atmosphäre abgetrennt wird. Ab den 2040er Jahren könnte so eine CO2-Senke entstehen, denn dann könnten diese Produkte kostengünstig im Sonnengürtel der Welt hergestellt werden. "Unser Szenario zeigt, wie die Industrie in Deutschland langfristig über eine Balance zwischen Nutzung heimischer Ressourcen und Importen von klimaneutralen Vorprodukten vom Weltmarkt in die Lage versetzt werden kann, klimaneutral Produkte herzustellen und zugleich wettbewerbsfähig zu bleiben", sagt Manfred Fischedick und fasst zusammen: "Um die industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu halten, braucht es aber politischen und gesellschaftlichen Rückhalt. Es braucht unter anderem Anreizsysteme für den Aufbau von dynamischen Märkten für grüne und nachhaltige Produkte und transparente Zertifizierungssysteme damit Gesellschaft und Verbraucherinnen und Verbraucher diese auch als grün und nachhaltig anerkennen."

An den Gestaltungsmöglichkeiten für eine klimaneutrale Industrie arbeitet das Wuppertal Institut besonders auch in Nordrhein-Westfalen, etwa als wissenschaftlicher Partner der Landesinitiative IN4climate.NRW, die NRW-Wirtschafts- und Energieminister Prof. Dr. Andreas Pinkwart Ende 2018 ins Leben gerufen hat, um die Industrie des Landes durch die Zusammenarbeit von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik fit zu machen für die Herausforderungen einer klimaneutralen Welt von morgen.

Die Langfassung der Studie sowie weiterführende Informationen sind in den nachfolgenden Links zu finden.


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