Energy Efficiency First gilt auch für das Strommarktdesign

Ein Statement von Dr. Stefan Thomas und Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick

  • Statements 16.09.2024

Wenn es günstiger ist, Energie einzusparen oder Lasten zu steuern, sollte dieser Weg den Vorrang vor dem Ausbau der Energieerzeugung haben – so sieht es die Europäische Union vor. In ihren aktuellen Plänen zum Ausbau der steuerbaren Leistung und erneuerbarer Energien berücksichtigt die Bundesregierung dieses Prinzip jedoch nicht.
In den vergangenen zwei Jahren wurde im Bundeswirtschaftsministerium intensiv am gesetzlichen und regulatorischen Rahmen für ein treibhausgasneutrales und auf erneuerbaren Energien aufgebautes Energiesystem der Zukunft gearbeitet. Es folgte ein Strategieentwurf nach dem anderen – für die Systementwicklungsstrategie als Gesamtrahmen, die Wasserstoffstrategie und Wasserstoffimportstrategie, die Stromspeicherstrategie, die Carbon-Management-Strategie und weitere Strategien, und zuletzt Anfang August das Optionenpapier zum Strommarktdesign der Zukunft.

Allen diesen Strategie- und Optionenpapieren ist eines gemeinsam: Sie berücksichtigen nicht, oder zumindest nicht explizit, das Energy-Efficiency-First-Prinzip, obwohl es von der EU-Gesetzgebung gefordert ist. Im Optionenpapier zum Strommarktdesign der Zukunft wird es nicht einmal erwähnt.

EU-Governance-Verordnung setzt Rahmen

Was ist das Energy-Efficiency-First-Prinzip? Es wurde bereits 2018 in Artikel 2 (18) der EU-Governance-Verordnung (EU) 2018/1999 definiert. Kurz zusammengefasst bedeutet es: Wann immer es aus gesamtgesellschaftlicher Sicht kostengünstiger ist, Energieverbrauch durch alternative Energieeffizienzmaßnahmen zu reduzieren oder über Laststeuerung Kosteneinsparungen zu realisieren, soll diesen Alternativen der Vorrang gegenüber dem Ausbau der Energieversorgung gegeben werden. Selbstverständlich sind Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit dabei zu gewährleisten.

Die Anwendung des Prinzips wurde im vergangenen Jahr in der Novelle der Energieeffizienz-Richtlinie (EU) 2023/1791 präzisiert. Dabei wurde das Prinzip anders ins Deutsche übersetzt, und zwar als Grundsatz "Energieeffizienz an erster Stelle" (Artikel 3 (1)): "Im Einklang mit dem Grundsatz 'Energieeffizienz an erster Stelle' stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass Energieeffizienzlösungen, einschließlich nachfrageseitiger Ressourcen und Systemflexibilitäten, bei Planungs-, Politik- und größeren Investitionsentscheidungen in Höhe von jeweils mehr als 100 000 000 EUR bzw. 175 000 000 EUR im Falle von Verkehrsinfrastrukturprojekten in Bezug auf folgende Sektoren bewertet werden: a) Energiesysteme und b) andere Sektoren als der Sektor Energie, sofern diese Sektoren Auswirkungen auf den Energieverbrauch und die Energieeffizienz haben, so z. B. Gebäude, Verkehr, Wasser, Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT), Landwirtschaft und Finanzen."

Das Prinzip gilt also nicht nur für den Energiesektor, und es gilt für Politikentscheidungen wie das Strommarktdesign, für Planungsprozesse wie den Netzentwicklungsplan, aber auch lokale Wärme- und Mobilitätspläne, und für größere Einzelinvestitionen im Energiesektor oder im Straßen- und Schienenverkehr, die die Investitionsschwellenwerte überschreiten. Für die Gas- und Strominfrastruktur legt Artikel 27 der Richtlinie weitere Details, auch für die Regulierungsbehörden, fest. Regierung und Netzagentur müssen künftig auch berichten, wie sie das Prinzip umgesetzt haben.

Es ist sehr lobenswert, dass Deutschland mit dem Energieeffizienzgesetz (EnEfG) von 2023 die neuen Energieverbrauchsziele der EU-Effizienzrichtlinie zügig umgesetzt hat. Bis 2030 sollen gegenüber 2008 der Endenergieverbrauch um 26,5 Prozent und der Primärenergieverbrauch sogar um 39,3 Prozent gesenkt werden. Das ist mit dem Blick auf die Zeitachse durchaus ambitioniert und nur zu erreichen, wenn alle bestehenden und neuen Politikstrategien und Planungsprozesse mit diesen Zielen in Übereinstimmung gebracht werden.

Ein wichtiges und sehr hilfreiches Werkzeug dafür ist es, das Energy-Efficiency-First-Prinzip in jedem konkreten Fall anzuwenden. Das ist aber in Deutschland bisher nicht der Fall, denn im EnEfG ist das Energy-Efficiency-First-Prinzip noch nicht umgesetzt. Bis zum 11. Oktober 2025 sind alle Bestimmungen der EU-Richtlinie, also auch die Artikel 3 und 27 zum Grundsatz "Energieeffizienz an erster Stelle", in nationales Recht umzusetzen.

Dabei liegen die Vorteile der Anwendung des Energy-Efficiency-First-Prinzips auf der Hand. Am Beispiel des Optionenpapiers zum Strommarktdesign der Zukunft soll dies hier anhand von zwei der im Papier betrachteten Handlungsfelder kurz erläutert werden.

Das erste davon ist der Investitionsrahmen für erneuerbare Energien. Das Ziel sind 80 Prozent Anteil erneuerbarer Energien am Stromverbrauch bis 2030. Das Energy-Efficiency-First-Prinzip bedeutet, im Szenariorahmen für den erforderlichen Ausbau die Bezugsgröße "Stromverbrauch" stärker in den Blick zu nehmen. Es geht konkret darum zu analysieren, inwieweit der Stromverbrauch bis 2030 bei 'klassischen' Stromanwendungen in Industrie und Gebäuden sowie bei 'neuen' Anwendungen, also insbesondere Wärmepumpen, batterieelektrischen Fahrzeugen, Elektrolyseuren oder elektrischer Prozesswärme, durch energieeffizientere Technologien und Energiemanagement reduziert werden könnte.

Warum macht das Sinn? Trotz aller Kostensenkungen, insbesondere bei der Photovoltaik, wird der Ausbau der erneuerbaren Energien im Strombereich auch künftig nicht kostenlos sein. Dies gilt insbesondere, wenn man die Kosten für Netzausbau und Redispatch berücksichtigt. Hinzu kommt der Verbrauch kritischer Ressourcen, der mit dem Ausbau erneuerbarer Energien verbunden ist.

Zusammendenken der Ziele fehlt

Ein konsequentes Zusammendenken der Ziele Stromverbrauchssenkung und Ausbau erneuerbarer Energien auf einem 'level playing field' unterbleibt bisher. Im Optionenpapier des Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) werden nur die im EEG festgeschriebenen Ausbauziele für 2030 und 2045 referiert sowie ein Ergebnis der BMWK-Langfristszenarien zum Stromverbrauch im Jahr 2045. Diese Szenarien berücksichtigen zwar Steigerungen der Endenergieeffizienz. Inwieweit das referierte Ergebnis auf dem Energy-Efficiency-First-Prinzip beruht, ist aber unklar.

Das zweite Handlungsfeld ist ein Investitionsrahmen für steuerbare Kapazitäten. Das Optionenpapier konstatiert zwar, dass ein dezentraler oder kombinierter Kapazitätsmarkt besser auf unerwartete Entwicklungen reagieren könnte, wie zum Beispiel eine geringere Nachfrage, und dass er Speicher und flexible Lasten (vor allem die Aggregation kleiner Lasten) besser fördern könnte als ein zentraler Kapazitätsmarkt. Jedoch ist Energieeffizienz auf der Nachfrageseite als steuerbarer Parameter auch hier bisher kein Thema. Es wird nicht diskutiert oder gar systematisch analysiert, ob und wie weit der von der Bundesnetzagentur abgeschätzte Kapazitätsbedarf von 17 bis 21 Gigawatt für das Jahr 2031 konkret durch zusätzliche Anreize für Energieeffizienzmaßnahmen und Speicher auf der Nachfrageseite sowie durch flexible Lasten reduziert werden könnte.

Zudem scheint das BMWK eine Einführung der dezentralen Komponente im kombinierten Kapazitätsmarkt zeitlich erst nach einer zentralen Ausschreibung steuerbarer Kapazitäten inklusive der vorgelagerten Kraftwerksstrategie vorzusehen. Nach dem Energy-Efficiency-First-Prinzip müsste es anders herum sein! Und in den zentralen Ausschreibungen müssten auch nachfrageseitige Speicher und Demand Response zum Zuge kommen können. Immerhin wird im Handlungspapier das Problem einer möglichen Überdimensionierung im zentralen Kapazitätsmarkt angesprochen.

Das Energy-Efficiency-First-Prinzip würde zudem verlangen, dass KWK-Anlagen Vorrang erhalten, solange sie stromgeführt betrieben werden und dann kostengünstiger sind als ungekoppelte Kraftwerke. Auch davon ist keine Rede – KWK und ungekoppelte Anlagen werden an den wenigen Stellen, an denen im Optionenpapier des BMWK überhaupt die KWK erwähnt wird, ohne Wertung nebeneinander gestellt.

Wie wichtig eine Abstimmung zwischen allen diesen Politik-, Planungs- und Investitionsprozessen unter Berücksichtigung des Energy-Efficiency-First-Prinzips ist, zeigt die Entwicklung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 bis heute – seitdem ist ein deutlich gesunkener Stromverbrauch zu beobachten. Gründe dafür sind nicht nur Produktionsrückgänge in der Industrie, sondern auch hohe Strompreise, auf die Verbraucher:innen und Unternehmen mit Energieeffizienzanstrengungen reagieren.

Einsparungen verstetigen

Klug wäre es, wenn die Politik versuchen würde, die durch Effizienzmaßnahmen erreichten Einsparungen zu verstetigen und die Umsetzungsdynamik von Effizienzmaßnahmen zu verstärken. Bisher hat sie dies nicht als explizites Ziel erklärt, auch wenn es wichtige Förderprogramme und Informationskampagnen gibt. Dabei würde es nicht nur erheblich dazu beitragen, die Klima- und Energieeffizienzziele zu erreichen, sondern hätte auch den positiven Effekt, den Bedarf am Ausbau erneuerbarer Energien, an steuerbaren Kapazitäten und am Netzausbau zu reduzieren.

Damit keine Zweifel aufkommen: Die erneuerbaren Energien müssen mit aller Kraft weiter ausgebaut werden. Insofern sind die in den vergangenen Jahren gestiegenen Ausbauzahlen im Bereich Solar- und Windenergie sehr zu begrüßen und nicht zuletzt auf den Abbau von Hürden im Bereich von Planung und Genehmigungsverfahren zurückzuführen. In diese Richtung konsequent weiterzuarbeiten ist essentiell.

Wir plädieren allerdings dafür, die Chancen, die in der Anwendung des Energy-Efficiency-First-Prinzips liegen, besser zu nutzen und einen integrierten, ganzheitlichen Entwicklungsansatz zu wählen, der Energieeffizienz und erneuerbare Energien zusammendenkt. Dadurch ist es möglich schneller zum Ziel eines 80-Prozent-Anteils erneuerbarer Energien zu kommen beziehungsweise die eigentlich angestrebte 100-Prozent-Marke schneller zu erreichen, und dabei die gesetzten Ziele mit weniger Kapazitäten und damit auch mit geringeren Kosten sowie weniger Flächen- und Ressourcenverbrauch zu erreichen.

 

Dieses Statement ist am 11. September 2024 im Tagesspiegel Background erschienen.


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