Umsetzung der Klimaschutzziele erfordert mehr Ehrlichkeit

Eine hinreichend schnelle Umsetzung der Klimaschutzziele ist nicht ohne einen ehrlichen und offenen Umgang mit den Konflikten und den Zeitkonstanten möglich - Kurzeinschätzung von Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick

  • Statements 15.02.2022

Im Verlauf des Jahres 2021 wurden fünf große Transformationsstudien veröffentlicht, die zeigen, wie Deutschland seine selbst gesteckten Klimaschutzziele, also Treibhausgasneutralität 2045, erreichen kann. Dabei handelt es sich um Studien von Agora Energiewende, dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), dem Bundeswirtschaftsministerium, der Deutschen Energie-Agentur (dena) und dem Bundesforschungsministeriums im Rahmen des Verbundprojektes Ariadne. Trotz der unterschiedlichen Auftraggeber sind sie sich in den Ergebnissen und der Analyse weitgehend einig. Kurz gefasst bedeutet dies:

  • Die für das Erreichen der Klimaschutzziele notwendigen Maßnahmen sind bekannt und die notwendigen Technologien in den letzten drei Dekaden weitgehend entwickelt worden.
  • Für die Umsetzung der Ziele gibt es kein Königsinstrument, sondern ist das gesamte Portfolio an Klimaschutzstrategien zu nutzen, anders ausgedrückt: Es gibt wenig Raum für Selektivität.
  • Weitgehende Maßnahmen sind in allen Sektoren schnell und konsequent gefordert – insbesondere in Energiewirtschaft, Verkehr, Gebäude, Industrie und Landwirtschaft.
  • Eine besondere Herausforderung besteht darin, die aus heutiger Sicht als unvermeidbar geltenden Treibhausgas-Emissionen, wie prozessbedingte CO2-Emissionen der Zementherstellung, CO2- und Methanemissionen aus der Landwirtschaft, durch negative Emissionen zu kompensieren. Denn nur so ist der Anspruch auf Treibhausgasneutralität aufrechtzuerhalten. Die Studien unterscheiden sich allerdings maßgeblich hinsichtlich ihrer Einschätzung darüber, ob und in welchem Umfang dies durch Maßnahmen in Deutschland gelingen kann – wie etwa durch die Kombination von CO2-Abtrennung und Speicherung mit der Nutzung von Biomasse zur Wärmebereitstellung in Industrieprozessen und/oder die Abtrennung von CO2 aus der Luft.
  • Um die vorgegebenen Ziele zu erreichen, müssen viele Maßnahmen parallel umgesetzt werden und erhebliche Vorleistungen erbracht werden. Dabei braucht es jetzt mutige Entscheidungen trotz der nach wie vor hohen Unsicherheiten und immensen Dynamik im System und damit auch die bewusste Bereitschaft, auf möglicherweise nicht optimale Pfade zu setzen.
  • Eine hinreichend schnelle Umsetzung erfordert die Bündelung aller Kräfte und gelingt nur, wenn sich alle relevanten Akteur*innen ihrer Verantwortung bewusst sind und gemeinsam im Sinne von konzertierten Aktionen vorangehen.
  • Die Zielerreichung ist nicht zum Nulltarif zu haben, im Gegenteil: Es braucht massive zusätzliche Investitionen, die sich aber rechnen unter anderem durch eingesparte Energiekosten, durch die durch den Wandel ausgelösten Innovationsimpulse, gute Ausgangsbedingungen auf den wachsenden Weltmärkten für Klimaschutz-Technologien und -Dienstleistungen sowie vermiedene Schadens- und Anpassungskosten.
  • Das Erreichen der Ziele wird nur gelingen, wenn die Menschen auf dem Weg mitgenommen werden und ihnen Raum zur Mitgestaltung gegeben wird. Dabei geht es um eine echte Trägerschaft und eine Beteiligungskultur, statt reiner akzeptanzschaffender Maßnahmen. Aber vor allem muss die Umsetzung sozialverträglich gestaltet werden, Lasten gerecht geteilt, sorgsam mit Strukturwandel umgegangen werden und die sozial schwächer gestellten Haushalte Unterstützung erfahren.

Die Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. Ganz entscheidend für die Umsetzung ist aber aus heutiger Sicht mehr Ehrlichkeit und Transparenz. Denn es zeigt sich eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Handlungsdruck, wie er sich aus den großen Transformationsstudien ableitet, und den realen Zeitkonstanten. In Studien werden die notwendigen technischen und ökonomischen Transformationspfade skizziert, die sich in der Realität bisher aber an vielen Stellen aufgrund vielfältiger Restriktionen und Hürden nicht widerspiegeln. Die Umsetzung der Klimaschutzziele ist daher kein Selbstgänger. Setzt sich dieser Eindruck fest, besteht die Gefahr wertvolle Zeit durch Abwarten zu verlieren. Dem Ziel kommt man nur dann näher, wenn man die mit dem Umsetzungspfad verbundenen Schwierigkeiten und die vielfältigen Konfliktlagen transparent macht und auf dieser Basis nach Lösungen sucht. Robert Habeck, Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, hat daher recht, wenn er wie Mitte Dezember 2021 kurz nach seinem Amtsantritt von Zumutungen spricht, die der Gesellschaft auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität bevorstehen.

Ehrlichkeit betrifft auch und gerade das Aufzeigen der Zeitkonstanten, die heute einer hinreichend schnellen Umsetzung noch entgegenwirken. Anders ausgedrückt: Es müssen die Prozesse transparent gemacht werden, die hohe Hürden darstellen beziehungsweise so komplex sind, dass deren Überwindung aus heutiger Sicht viel Zeit kostet. Dies erfordert mutige und teilweise auch ganz neue Verfahren. Beispiele für Herausforderungen, die mit hohen Zeitkonstanten verbunden sind, gibt es leider viele:

  • Deutliche Verringerung der langen Planungs- und Genehmigungszeiten für den Ausbau erneuerbarer Energien und die Errichtung von Energieinfrastrukturen
  • Aufbrechen der zunehmenden Professionalisierung von Widerstand und das Hineintragen von Konflikten von außen – etwa bei der Errichtung von Windparks – mit massiven Rückwirkungen auf die gesellschaftliche Akzeptanz vor Ort
  • Ausgleich der fehlenden Handwerker*innen-Kapazitäten und zwar nicht nur für die Gebäudesanierung, sondern beispielsweise längst auch Ausgleich für fehlende Ingenieure*innen für den Ausbau der Offshore-Windenergie
  • Stärkung der internationalen Zusammenarbeit und gemeinschaftliche Spezifikation der notwendigen Maßnahmen als ein Element für den Umgang mit dem hohen Diskussions- und Abstimmungs- sowie teils Überzeugungsbedarf bei grenzüberschreitenden Infrastrukturmaßnahmen
  • Bereitschaft zum kompletten Neudenken auf der regulatorischen Ebene, beispielsweise in Bezug auf den notwendigen kompletten Umbau des Marktdesigns im Energie- und Strommarkt
  • Sorgsamer Umgang mit den Beharrungskräften der "Verlierer*innen" des durch die Transformationspfade ausgelösten Strukturwandels und neue Chancen ermöglichen, um neue Wege auf der Basis der vorhandenen Kompetenzen gehen zu können
  • Schließen der weiterhin großen Aktivierungslücke bei den Konsumierenden. Denn für die Umsetzung der Ziele braucht es eine Mitmachdynamik der gesamten Gesellschaft und nicht nur derjenigen, die sich schon seit langem versuchen klimaverträglich zu verhalten.
  • Aufbrechen von Verhaltensroutinen, die mit grundsätzlich langen Zeitkonstanten verbunden sind, unter anderem durch das Aufzeigen des persönlichen und gesellschaftlichen Nutzens (auch über den Klimaschutz hinaus)
  • Hilfestellung für den Umgang mit der Komplexitätsfalle, in der politische Entscheidungsträger*innen nicht selten stecken, da sie in kurzer Zeit Entscheidungen treffen müssen, die weitreichende Auswirkungen haben, zugleich aber in ihrer Wirkungsabschätzung aufgrund der Vielschichtigkeit der Systeme hoch komplex sind
  • Neue Formen der internationalen Zusammenarbeit, die mit bisher häufig sehr langsamen Prozessen brechen. Die Langsamkeit vieler internationaler Prozesse, wie die internationalen Klimaschutzverhandlungen unter der United Nations Climate Change Conference (UNFCCC), haben ihren Hintergrund im Konsensprinzip. Sie können damit nur im eingeschränkten Maße Impulse für den Umsetzungsprozess leisten. Das Spannungsfeld besteht damit zwischen der grundsätzlich gewünschten Breite internationaler Beteiligung und der Langsamkeit internationaler politischer Prozesse. Vorreiterallianzen einzelner Länder oder Branchen (Klimaclubs), die offen für alle sind, könnten hier Abhilfe schaffen.
  • Überwindung des Präventionsparadoxon: Unterschied zwischen dem Wissen über die Risiken und die Folgen des Klimawandels versus die Bereitschaft des schnellen und konsequenten Handelns

Die wenigen Beispiele zeigen bereits, dass wir dringend einen Weg finden müssen mit den langen Zeitkonstanten umzugehen. Zudem müssen wir Politikpakete entwickeln, die genau an dieser Stelle ansetzen und helfen die Restriktionen schnell (!) zu überwinden. Sie müssen auch dafür vorsorgen, dass keine neuen großen Widerstände entstehen. Zwei Beispiele für zukünftige Gefahren mögen dies belegen:

Bei der Umsetzung der Klimaschutzziele reichen inkrementelle Veränderungen nicht aus, an vielen Stellen braucht es transformative Innovationen. Zentrales Merkmal von diesen Innovationen ist, dass sie ein besonders hohes Potenzial, eine große Hebelwirkung und Wirkmächtigkeit haben, um den Gesamtprozess einer Großen Transformation zur Nachhaltigkeit voranzubringen – auch transformatives Potenzial genannt. Sie können einerseits auf einzelne Sektoren oder Anwendungsfelder begrenzt sein, wirken aber andererseits auf die gesamte Gesellschaft und deren Transformation ein. Transformative Innovationen umfassen dabei sowohl technische Innovationen (wie digitales Tracking von Rohstoffen als wesentliches Element für die Umsetzung einer Zirkulären Wirtschaft) beziehungsweise Innovationsbündel (z. B. Umsetzung einer Wasserstoffwirtschaft) wie soziale Innovationen. Zu letzterem gehören etwa nachhaltige Gemeinschaftsverpflegung, die die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten vorantreiben können. Aufgrund der Wirkmächtigkeit derartiger Innovationen ist es von entscheidender Bedeutung, eine sorgfältige Analyse der mit ihnen verbundenen strukturellen Veränderungen durchzuführen – also zu analysieren, welche Wirkung sie auf Wertschöpfung sowie Beschäftigung (und zwar qualitativ wie quantitativ) in den Wirtschaftssektoren haben. Nur auf dieser Grundlage ist es möglich, hinreichend früh proaktive Maßnahmen zu entwickeln, die den Strukturwandel flankieren können und die betroffenen Akteur*innen in die Lage versetzen, sich mit dem notwendigen Vorlauf anzupassen.

Ein zweites Beispiel betrifft die Gefahr von Exklusionseffekten. Diese können entstehen, wenn viele Fördermaßnahmen wie aktuell im Bereich der Förderung der Elektromobilität nur einen Teil der Bevölkerung erreichen. Es richtet sich also nur an diejenigen, die sich derartige Fahrzeuge überhaupt leisten können, während der größere Teil der Bevölkerung außen vor bleibt. Ähnliche Effekte ergeben sich bei dem Werben um Investitionsbeteiligung in Windenergieanlagen. Derartige Maßnahmen sind zweifelsohne notwendig, um die Marktdurchdringung zu stärken, das Henne-Ei-Problem zu überwinden, bedürfen gleichwohl einer sorgfältigen Balance um Beteiligung. Bei der Windenergie ließe sich dies dadurch erreichen, indem nicht nur die Investoren von den Einnahmen der Anlagen profitieren, sondern die gesamte Kommune auf deren Gebiet die Anlagen aufgestellt werden und diese die zusätzlichen Einnahmen gemeinwohlorientiert verausgaben.


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