Empfehlungen des Bürgerrats "Ernährung im Wandel": vielversprechend und ambitioniert

Ein Statement von Prof. Dr. Melanie Speck und Lena Hennes

  • Statements 20.02.2024

Am 20. Februar 2024 übergab der Bürgerrat "Ernährung im Wandel" seine Empfehlungen an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas. Eine erste Einordnung zeigt: Die von den Bürger*innen erarbeiteten Empfehlungen sind äußerst konkret, entsprechen größtenteils den aktuellen wissenschaftlichen Empfehlungen und sind in einen sinnvollen ordnungspolitischen Rahmen eingebettet.

Empfehlungen des Bürgerrats: hohe Schnittmenge mit Stand der wissenschaftlichen Forschung

Die Empfehlungen zum beitragsfreien Mittagessen in Kitas und Schulen sowie zur Ernährungsqualität in Einrichtungen der Vollverpflegung, etwa Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen, decken sich weitgehend mit den Forschungsergebnissen des Wuppertal Instituts: Wissenschaftlich betrachtet ist die Gemeinschaftsverpflegung ein entscheidender Hebel für gesundheitsorientierte und klimagerechte Ernährung, der in allen Bevölkerungsgruppen Wirkung entfalten kann. Hierfür besteht allerdings ein deutlicher Investitionsbedarf, die Kosten liegen laut einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz (2020) bei rund 5,5 Milliarden Euro pro Jahr. Auch sollte die Umsetzung durch ein eindeutiges Monitoring begleitet werden, um eine hohe Qualität und Akzeptanz der Mahlzeiten sicherzustellen. Bei der Verpflegung in Schulen und Kitas sollte zudem geprüft werden, ob die kostenfreie Verpflegung zu einer Minder-Wertschätzung der Mahlzeiten führt – nach dem Motto "was nichts kostet, ist auch nichts wert". 

Mit der Empfehlung "Fördern statt Fordern – neuer Steuerkurs für Lebensmittel" machen die Bürger*innen deutlich, dass sie veränderte Mehrwertsteuer-Sätze mit großer Mehrheit als wichtiges Instrument betrachten: Sie empfehlen, pflanzliche Lebensmittel mit einem geringen Mehrwertsteuersatz zu bemessen – oder für diese sogar ganz auf die Mehrwertsteuer zu verzichten – und die Definition von Grundnahrungsmitteln in der Steuergesetzgebung zu überprüfen und anzupassen. Das würde zwar voraussichtlich die fiskalen Einnahmen verringern, aber die Bürger*innen verweisen hier auf die Notwendigkeit der staatlichen Unterstützung einer gesundheitsförderlichen Ernährung. Auch könnten Mehreinnahmen durch eine verstärkte Besteuerung von weniger gesundheitsförderlichen Lebensmitteln den Effekt abschwächen oder ausgleichen – das bleibt im Detail zu prüfen. Aus sozialpolitischer Sicht bergen niedrigere Steuersätze darüber hinaus das Potenzial, die Folgen der aktuellen Inflation für die gesamte Gesellschaft ein Stück weit abzufedern und insbesondere finanziell schwach aufgestellten Haushalten ein gesünderes Konsumverhalten überhaupt erst zu ermöglichen.

Die Empfehlung "Verpflichtende Weitergabe von genießbaren Lebensmitteln durch den Lebensmitteleinzelhandel" ermöglicht in der Theorie eine breite ökologische Hebelwirkung, etwa durch die Reduktion von Treibhausgas-Emissionen. Aber: Erste empirische Ergebnisse zeigen, dass diese Maßnahme die nachgelagerten Systeme, also die Tafeln und ähnliche Einrichtungen, überlasten würde – mit ihren aktuellen Strukturen könnten sie die anfallenden Warenströme kaum verwerten. Damit die Weitergabe von Lebensmitteln ihre volle Wirkung entfalten kann, bedarf es daher einer systematischen Verknüpfung, etwa bei der Logistik und Lagerung der Lebensmittel, sowie einer personellen Aufstockung. Unabhängig davon sollten weitere Maßnahmen ergriffen werden, um überschüssige Waren zu vermeiden, auch entlang der vorgelagerten Wertschöpfungskette.

Zusätzlich zu ihren spezifischen Vorschlägen plädieren die Bürger*innen mit großer Mehrheit für die Querschnittsempfehlung "Aufklärung und Bildung". Sie stellt gewissermaßen das Fundament für alle Empfehlungen des Bürgerrats dar. Die Bürger*innen empfehlen eine staatlich initiierte Aufklärung, weit über den bisherigen Umfang hinaus. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das sehr begrüßenswert, denn die positiven Effekte einer umfangreichen Ernährungsbildung sind empirisch gut belegt. Allerdings bestehen hier systemische Hindernisse: Da Bildung Ländersache ist, hat der Bund keinen unmittelbaren Einfluss auf die Lehrpläne – und kann die Umsetzung von Bildungsmaßnahmen dementsprechend auch nicht direkt anstoßen. Aber hier fordern die Bürger*innen ein eindeutiges, lösungsorientiertes Umdenken.

Was noch fehlt: Monitoring, ökologisch wahre Preise und Untersuchung von Hebelwirkungen

Die Empfehlungen des Bürgerrats sind insgesamt gut geeignet, um messbare ökologische Verbesserungen bei der Transformation des Agrar- und Ernährungssystems herbeizuführen. So können die Absenkung der Mehrwertsteuer oder die Umsetzung der Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung in großen Verpflegungssettings dazu beitragen, den Anteil pflanzlicher Lebensmittel auf den Tellern in der Bundesrepublik zu erhöhen, mit entsprechend positiven Effekten für Gesundheit, Klima und Umwelt. 

Um die bestehenden Potenziale voll auszuschöpfen, sollte die Umsetzung der Empfehlungen allerdings durch weitere, flankierende Maßnahmen begleitet werden:

  • Monitoring: Um Rebound-Effekte zu vermeiden – etwa den Ersatz von Fleisch durch ähnlich klimaintensive Zutaten wie Milcherzeugnisse – ist ein richtungssicheres Monitoring notwendig. Auch sollte die Umsetzung der Empfehlungen daraufhin überprüft werden, ob sie zu mehr Tellerresten oder sonstigen Lebensmittelabfällen in den Küchen führt.
  • Ökologisch wahre Preise: Darüber hinaus sollten die ökologisch wahren Preise – sprich die externalisierten Effekte, die durch die Lebensmittelproduktion entstehen – mehr Berücksichtigung in den politischen Handlungsoptionen finden, etwa durch weitere Anpassungen von Steuern und sonstigen Abgaben.
  • Indikatoren-basierte Evaluation: Alle Empfehlungen sollten auf ihre potenzielle Hebelwirkung hin untersucht werden, was die Reduktion negativer ökologischer Auswirkungen angeht, beispielsweise in Bezug auf ihre Potenziale zur Minderung von Treibhausgasemissionen oder von Biodiversitätsverlusten. So lassen sich mögliche negative Effekte oder Problemverlagerungen in diesen Bereichen erkennen und messen – als Basis für zielgerichtete Anpassungen und Verbesserungen.

Zukunftsorientierte Empfehlungen und ein deutliches Signal an die Politik: Die Bürger*innen wollen eindeutige Entscheidungen

Inhaltlich lassen sich die Empfehlungen des Bürgerrats als zukunftsorientiert einstufen, wenn nicht sogar als progressiv. Sie machen deutlich, dass die Menschen in Deutschland sich mehr Transparenz und Verbindlichkeit bei der Regulation wünschen. Auch zeigen die Empfehlungen, dass die Bürger*innen über den eigenen Tellerrand hinausschauen: Soziale Gerechtigkeit spielt für viele eine große Rolle. Dementsprechend empfiehlt der Bürgerrat Maßnahmen zur Stärkung vulnerabler Gruppen und legt Wert auf den Bildungsaspekt als Fundament für seine Empfehlungen.

Im Bezug auf die Politik sendet das Gremium ein deutliches Signal: Die Bürger*innen wünschen sich eindeutige, richtungssichere Entscheidungen und Maßnahmen, um die Transformation des Agrar- und Ernährungssystems voranzutreiben. Denn ihnen ist mehrheitlich bewusst, dass sich Änderungen ergeben müssen – und werden. Offensichtlich trauen sich die Bürger*innen mehr Veränderungswillen zu, als die Politik das bisher tut.

Bei der Zusammensetzung des Bürgerrats ist von entscheidender Bedeutung, dass die beteiligten Bürger*innen eine für Deutschland repräsentative Einheit darstellen. Damit einher geht auch die Hoffnung, dass die direkte Beteiligung der Bevölkerung der Politikverdrossenheit vorgebeugt, das gemeinsame Erarbeiten von Handlungsvorschlägen für große gesellschaftliche Herausforderungen den sozialen Zusammenhalt stärkt und die Identifikation mit dem demokratischen System fördert.

Über den Bürgerrat und den wissenschaftlichen Beirat

Um die deutsche Bevölkerung im Bürgerrat "Ernährung im Wandel" repräsentativ abzubilden, wurden insgesamt 160 Teilnehmer*innen mit Hauptwohnsitz in Deutschland per Zufallsauswahl bestimmt, so dass die Zusammensetzung des Rats die Gesamtbevölkerung möglichst gut abbildet – sowohl im Hinblick auf allgemeine Merkmale wie Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungshintergrund als auch in Bezug auf ernährungsspezifische Faktoren wie eine vegetarische oder vegane Lebensweise der Ratsmitglieder.

Der wissenschaftliche Beirat unterstützt seit Juli 2023 die Arbeit des Bürgerrats. Prof. Dr. Melanie Speck, Senior Researcherin im Forschungsbereich Produkt- und Konsumsysteme am Wuppertal Institut, ist eine der Wissenschaftler*innen, die von den Fraktionen in den Beirat berufen wurde. Hauptaufgabe des Beirats war die fachliche Beratung der Stabsstelle des Bundestags und des Teams für Organisation und Moderation. Zentral für die Arbeit des Beirates waren die Leitfragen, was Bürger*innen wissen müssen und welche Perspektiven für fundierte Empfehlungen und Entscheidungen wichtig sind. Auf Anfrage wurden Beiratsmitglieder für Fachfragen hinzugezogen, unterstützt durch weitere Expert*innen. Der Beirat förderte den wissenschaftlichen Austausch und stand dem Bürgerrat beratend zur Verfügung, war aber nicht an Entscheidungen oder der Formulierung von Empfehlungen beteiligt.


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