Net Zero Industry Act: Die EU bekennt sich zu aktiver Industriepolitik

Ein Statement von Dr. Lukas Hermwille und Dr. Anna Leipprand

  • Statements 25.04.2024

Nach etwas mehr als einem Jahr der Verhandlungen zwischen EU-Kommission, Parlament und Rat wurde am 25. April 2024 der Net Zero Industry Act (NZIA) angenommen und tritt nun zeitnah in Kraft. Mitte März letzten Jahres hatte die EU-Kommission den ersten Entwurf des Gesetzes vorgelegt. Das Ziel ist, eine gemeinsame europäische Antwort auf die industriepolitischen Initiativen anderer führender Industrienationen zu liefern, etwa den Inflation Reduction Act der USA, Japans Green Transformation Paket oder Chinas Made in China 2025 Strategie: Im schärfer werdenden internationalen Wettbewerb sollen europäische Schlüsselindustrien unterstützt werden, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, einseitige Importabhängigkeiten abzuschwächen und so die Gefahr abreißender Lieferketten zu reduzieren, als Grundlage zum Erreichen der Ziele des Europäischen Green Deals.

Wesentliche Inhalte des Net Zero Industry Act

Der NZIA definiert Schlüsselindustrien für die erfolgreiche Umsetzung des European Green Deal: Die Liste umfasst Technologien für erneuerbare Energien – Wind, Solar, Wärmepumpen und Geothermie –, Wasserstoff, CO2-Abscheidung und -Speicherung, aber auch Technologien zur Erzeugung klimafreundlicher Grundstoffe wie Zement, Stahl und chemische Grundstoffe. Dabei adressiert das Gesetz die gesamten Wertschöpfungsketten für diese Produkte. Auch Kernkraftwerke sind gelistet. Es steht den Mitgliedstaaten jedoch frei, bei der nationalen Umsetzung einzelne Technologien auszuschließen. Für all diese Schlüsselindustrien setzt der NZIA das Ziel, in 2030 40 Prozent der europäischen Nachfrage aus eigener Produktion zu decken. Bis 2040 soll ein globaler Marktanteil von 15 Prozent erreicht werden.

Um diese Ziele zu erreichen, beinhaltet der NZIA eine Reihe von Maßnahmen:

  • Abbau von Bürokratie zur schnelleren Genehmigung sogenannter "strategischer Net-Zero-Projekte" (Net-Zero Strategic Projects) über eine zentrale Behördenstelle in jedem EU-Mitgliedstaat und straffe Bearbeitungsfristen. Darüber hinaus können die Mitgliedstaaten sogenannte "Net-Zero Acceleration Valleys" ausweisen. In diesen Regionen können für fest definierte Industriezweige etwa Umweltverträglichkeitsprüfungen vorab auf regionaler Ebene durchgeführt und so die administrativen Hürden für einzelne Projekte deutlich gesenkt werden. Für Forschungsprojekte können zudem sogenannte regulatorische "Sandboxes" festgelegt werden, in denen Unternehmen innovative Produkte und Dienstleistungen testen können, ohne sofort alle regulären Anforderungen erfüllen zu müssen.
  • Etablierung eines europäischen Markts für abgeschiedenes CO2 mit dem Ziel, bis 2030 eine Einspeicherungskapazität von 50 Millionen Tonnen CO2 zu gewährleisten. EU-Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, mögliche Speicherstätten sowie die für die Erschließung nötige Infrastruktur systematisch zu erfassen. Unter anderem werden Unternehmen aus der Öl- und Gasbranche verpflichtet, einen Anteil zu leisten, proportional zu ihrem Anteil an der europäischen Öl- und Gasförderung: Sie müssen entsprechende Einspeicherkapazitäten bereitstellen, etwa in ausgeförderten Öl- und Gasfeldern.
  • Schaffung von Leitmärkten für Net-Zero-Technologien über neue Nachhaltigkeits- und Resilienzkriterien in öffentlichen Ausschreibungen. Beispielsweise müssen wenigstens 30 Prozent der jährlich ausgeschriebenen Kapazität für erneuerbare Energien, oder mindestens 6 Gigawatt, solche zusätzlichen Kriterien erfüllen. Das soll zum Aufbau europäischer Lieferketten beitragen. Die Kriterien werden jedoch außer Kraft gesetzt, wenn deutliche Kostensteigerungen von über 20 Prozent entstehen, beziehungsweise 15 Prozent bei Ausschreibungen für erneuerbare Energien.
  • Aufbau von Aus- und Weiterbildungskapazitäten für Beschäftigte in Schlüsselindustrien über europäische Net-Zero-Industrie-Akademien.
  • Schaffung einer "Net-Zero Europe Platform" als zentrale Anlaufstelle für den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Kommission, den EU-Mitgliedsstaaten, der Industrie und anderen Stakeholdern, zur Förderung der Entwicklung und des Einsatzes von Net-Zero-Technologien in Europa.

Mit dem NZIA bekennt sich die EU zur strategischen politischen Gestaltung der industriellen Entwicklung

Lange Zeit war Industriepolitik ein Tabuthema in der europäischen Politik. In der Realität findet Industriepolitik zwar seit Langem statt, jedoch nicht unter diesem Namen. Und neuere empirische Untersuchungen zeigen, dass sie die gewünschten Wirkungen oft erreicht. Mit dem NZIA wird aktive Industriepolitik nun endlich explizit gemacht. Das ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung – nicht nur im Hinblick auf die Herausforderungen des Klimawandels und des verschärften internationalen Wettbewerbs um grüne Zukunftstechnologien, sondern auch angesichts der Erkenntnis aus den Verwerfungen infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und den darauf folgenden Sanktionen gegen Russland, dass zu große wirtschaftliche Abhängigkeiten strategisches geopolitisches Handeln erschweren können. 

Diese strategische Ausrichtung ist dringend geboten angesichts der aktuellen Situation: Heute liegt die Importabhängigkeit Europas von einem einzelnen Land – China – bei zentralen Komponenten der Photovoltaik bei über 90 Prozent. China, aber auch andere zentrale Wettbewerber wie die USA oder Indien, unterstützen ihre jeweilige heimische Produktion von Net-Zero-Technologien mit erheblichen Subventionen. In dieser Situation ist es richtig, nicht nur die Kosten und die Effizienz der Transformation ins Zentrum politischen Handelns zu stellen, sondern auch die Resilienz des Gesamtsystems im Blick zu behalten und Versorgungssicherheit deutlich stärker zu gewichten. 

Der Druck war groß, dass die EU auf protektionistische Maßnahmen des Inflation Reduction Act in den USA oder der chinesischen Subventionspolitik mit gleicher Münze antwortet. Dieser Versuchung ist die EU nicht erlegen. Der nun verabschiedete NZIA kommt glücklicherweise weitgehend ohne restriktive Einschränkung des internationalen Handels aus und wird deshalb nach unserer Einschätzung nicht zu einer weiteren Eskalation der internationalen Handelskonflikte beitragen.

Bürokratieabbau: NZIA stellt EU-Mitgliedstaaten vor gewaltige Herausforderungen

Aufwändige Planungs- und Genehmigungsverfahren sind in der Tat ein großes Problem für schnelle Investitionen in Schlüsselindustrien. Der NZIA nimmt hier die Mitgliedstaaten in die Pflicht: Sie müssen in kurzer Zeit ihre administrativen Strukturen stark ausbauen, um den nun vorgeschriebenen Fristen und Verfahren gerecht zu werden.

Mit Sicherheit bestehen erhebliche Potenziale, Genehmigungsverfahren zu vereinfachen, ohne negative Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft zu provozieren und Beteiligungsmöglichkeiten außer Kraft zu setzen. Allerdings steckt der Teufel im Detail: Wo Umweltschutzbestimmungen oder Beteiligungs- und Einspruchsmöglichkeiten zu weit abgebaut werden, drohen politische Rückschläge: Das Beispiel der Tesla-Fabrik in Grünheide oder die Errichtung des LNG-Terminals auf Rügen zeigen, welche gesellschaftlichen Spannungen die politische Beschleunigung von Genehmigungsverfahren auslösen kann. Angesichts immer stärker werdender rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte in der EU, würde der Verlust von Vertrauen in effektive und demokratische Institutionen – entweder durch Übervorteilung von Investoren bei der Vereinfachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren oder durch überforderte Genehmigungsbehörden – die Umsetzung des Europäischen Green Deals gefährden. Damit wäre auch die Erreichung der Klimaschutzziele insgesamt in Gefahr. 

Um das zu verhindern, müssen der Bürokratieabbau und die Schaffung der sogenannten Net-Zero Acceleration Valleys von Anfang an wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden und mit dem Mut respektive der Bereitschaft einhergehen, Verfahren kurzfristig auch wieder anzupassen. Erfahrungen mit innovativen Governance-Instrumenten müssen systematisch erfasst und analysiert werden, um Lernprozesse zu ermöglichen und erfolgreiche Ansätze EU-weit replizieren zu können. So lässt sich die Umsetzung des NZIA auf nationaler und subnationaler Ebene wirkungsvoll unterstützen.

Der Schwachpunkt des NZIA: keine neuen Finanzmittel

Im Entwurf des NZIA wird aber auch eine große Schwäche der EU sichtbar, nämlich dass es bis heute nicht gelungen ist, auf europäischer Ebene eine Einigung zur substanziellen finanziellen Unterstützung der Industrietransformation zu erzielen: Für die Finanzierung setzt der NZIA auf die "Strategic Technologies for Europe Platform (STEP)". Diese ist jedoch keine neue Finanzquelle, sondern bündelt lediglich vorhandene Förderinstrumente, ermöglicht Kofinanzierung durch mehrere Instrumente und erhöht die Sichtbarkeit der Projekte durch das sogenannte "Souveränitätssiegel". 

Um fairen Wettbewerb auf dem europäischen Binnenmarkt sicherzustellen, sind nationale Subventionen in der EU grundsätzlich verboten, beziehungsweise nur in bestimmten Fällen und mit erheblichem bürokratischem Aufwand möglich. Die Möglichkeiten für nationale Subventionen für Net-Zero-Technologien in den Mitgliedstaaten wurden durch die 2022 überarbeiteten EU-Beihilferichtlinien erweitert; noch bis Ende 2025 gelten zudem weitere Ausnahmen im Rahmen des sogenannten Temporary Crisis and Transition Framework, das im März 2022 als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine und die darauf folgenden wirtschaftlichen Turbulenzen in der EU eingeführt wurden. Nationale Subventionen können einerseits helfen, die quantitativen Ziele des NZIA zur Versorgungssicherheit zu erreichen. In Deutschland werden entsprechende nationale Maßnahmen bereits umgesetzt – etwa ein Kreditprogramm der KfW für Transformationstechnologien. 

Ein zentrales Dilemma bleibt aber ungelöst: Umfangreiche staatliche Industriesubventionen können sich nicht alle Mitgliedstaaten im gleichen Umfang leisten, reichere Mitgliedstaaten subventionieren ihre Industrien im schlechtesten Fall auf Kosten der Chancen anderer Mitgliedstaaten. Das birgt die Gefahr von Verzerrungen des Binnenmarkts, die gegebenenfalls den Zusammenhalt in Europa gefährden. Es ist zudem unwahrscheinlich, dass Subventionen in einzelnen Mitgliedstaaten ausreichen werden, um den gewünschten Aufbau von Produktionskapazitäten in der gesamten EU zu gewährleisten. 

Eine stärker europäisch ausgerichtete Förderung wäre deshalb sinnvoll. Erst letzte Woche schlug der von den EU-Regierungschefs beauftragte Sonderberichterstatter Enrico Letta vor, zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie einen EU-weiten Mechanismus für staatliche Beihilfen einzuführen. Jedoch ist absehbar, dass es zu dieser Frage keinen kurzfristigen Konsens geben wird. Eine wirkungsvolle finanzielle Antwort der EU auf den amerikanischen Inflation Reduction Act und vergleichbare Instrumente anderer Industriestaaten fällt deshalb vorerst aus.

Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung

Europa steht vor einer gewaltigen Investitionsherausforderung: Zu zögerliche Investitionen in neue Technologien würden dazu führen, dass die Klimaziele in Industrie und Energiewirtschaft verfehlt werden, denn in den nächsten Jahren erreichen viele bestehende Industrieanlagen das Ende ihrer Lebensdauer und müssen durch neue Investitionen ersetzt werden. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass Europa bei diesen Technologien international an Wettbewerbsfähigkeit verliert und die Produktion in andere Länder abwandert. Das würde nicht nur den Wohlstand in Europa gefährden, sondern auch die Erreichung der globalen Klimaschutzziele verzögern. Die bestehenden hohen und einseitigen Abhängigkeiten in bestimmten Lieferketten sind zudem ein geopolitisches Risiko für den Fall, dass Konflikte eskalieren. Mit dem NZIA bekennt sich die EU zu einer strategischen politischen Gestaltung der industriellen Entwicklung. 

Subventionsbasierte Industriepolitik ist immer mit den Risiken verbunden, ineffiziente Strukturen zu zementieren oder zu fördern, unnötig viele Fördermittel an einzelne oder viele Unternehmen auszuschütten und Mitnahmeeffekte zu generieren. Unternehmen werden immer Anreize haben, Risiken übertrieben darzustellen und für möglichst hohe Förderungen zu lobbyieren. Politik muss dies einpreisen. Gerade bei energieintensiven Industrien können staatliche Beihilfen nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden. Sie sind aber in einer Übergangszeit erforderlich, um den Aufbau klimafreundlicher, ressourcenleichter und nachhaltiger Lieferketten zu ermöglichen. Grüne Leitmärkte sind hier ein wichtiger Schritt und die neuen Ausschreibungsregeln des NZIA ein wichtiger kurz- und mittelfristiger Beitrag. Aber langfristig müssen sich die klimafreundlichen Produktionsverfahren auch ohne staatliche Unterstützung im internationalen Wettbewerb beweisen. Außerdem bleiben Industriesubventionen mit Opportunitätskosten verbunden: Die Politik muss abwägen, ob die begrenzten Mittel nicht besser für andere Zwecke ausgegeben werden sollen, etwa für Bildung oder öffentliche Infrastruktur.

Der NZIA ist ein erster Schritt, eine genuin europäische Antwort auf die Herausforderungen einer neuen industriellen Geopolitik zu entwickeln. Anders als die USA verfügt die EU mit dem Emissionshandel über ein Leitinstrument, das einen langfristigen Rahmen setzt und entscheidend dazu beiträgt, Investitionen in neue Technologien rentabel zu machen. Die EU-Kommission hat mit ihrer Mitteilung zum Klimaschutzziel für 2040 gezeigt, dass sie dem bisherigen Pfad treu bleiben möchte – und dass sie versucht, auch über die EU-Wahl hinaus die Grundlagen dafür zu schaffen, an diesen enormen Erfolg europäischer Politik anzuknüpfen. Angesichts großer Unsicherheiten und Risiken mit potenziell enormen Schadenswirkungen ist es notwendig und richtig, darüber hinaus Sicherheitsnetze einzuführen und Entwicklungen strategisch zu lenken, um erwünschte öffentliche Güter wie Klimaschutz und Sicherheit bereitzustellen. 

Ein vielleicht noch größerer Erfolg europäischer Politik ist der gemeinsame Binnenmarkt, der wesentlich zur Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beigetragen hat. Industriepolitik darf kein Nullsummenspiel zwischen den Mitgliedstaaten sein. Sie muss vielmehr die europäische Gemeinschaft festigen, die Stärken der einzelnen Länder fördern und vergleichbare Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt auch weiterhin sichern. Dazu wäre eine Stärkung von STEP nötig gewesen: Mit neuen Mitteln ausgestattet, könnte STEP ein Gegengewicht zu nationalen Beihilfen finanzkräftiger Mitgliedstaaten schaffen und so Spielräume für umfangreichere Subventionen eröffnen. Diese politische Frage beantwortet der NZIA leider nicht – und kann deshalb auch nicht das letzte Wort in der europäischen Industriepolitik sein.


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