Inflation Reduction Act der USA und Global Green Deal Industrial Plan der EU

Eine Einordnung im Kontext der Herausforderungen von Klimaschutz und Versorgungssicherheit von Prof. Dr.-Ing. Manfred Fischedick

  • Statements 21.02.2023

Das Energiesystem steht heute mehr denn je unter einem enormen Veränderungsdruck. Gefragt sind schnelle, zugleich robuste und langfristig tragfähige Lösungen – aber vor allem Investitionen in zukunftsgerichtete Technologien und Prozesse. Die USA hat mit dem Inflation Reduction Act im Herbst 2022 Akzente gesetzt. Die Europäische Union (EU) will mit dem Global Green Deal Industrial Plan entgegnen. Doch kann der aktuelle Umsetzungswettbewerb zu einer Beschleunigung des globalen Transformationsprozesses führen und als Booster wirken oder braucht es eine stärkere Bündelung der Kräfte?

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat uns die Verletzlichkeit unseres Energiesystems schmerzlich vor Augen geführt. Weltweit und vor allem auch in Deutschland sind im Jahr 2022 die Energieträger- und Rohstoffpreise drastisch gestiegen. Der richtige Umgang und den damit verbundenen sozialen Implikationen bestimmte lange Zeit die politischen Diskussionen. Über Jahrzehnte als selbstverständlich wahrgenommene Aspekte, wie die Rolle von Erdgas als Brücke in das Zeitalter der erneuerbaren Energien, gelten plötzlich nicht mehr. Dynamik und Unsicherheiten und hierdurch bedingt auch die ohnehin schon bestehende Komplexität bei der Suche nach guten Lösungen für die vielschichtigen Transformationsherausforderungen haben deutlich zugenommen.

Neben der Versorgungssicherheit bestimmt der Klimaschutz die Veränderungsnotwendigkeit des Energiesystems. Die Folgen des Klimawandels zeichnen sich immer stärker ab und manifestieren sich unter anderem in Form von Hitzeperioden und Starkregenereignissen oder Stürmen – und zwar nicht nur in weit entfernten Ländern, sondern auch in Deutschland. Nach wie vor sind wir global wie national weit entfernt von der Erreichung der notwendigen Klimaschutzziele. Zwischen 1990, dem internationalen Bezugsjahr für den Klimaschutz, und dem Jahr 2021 konnten die Treibhausgas-Emissionen in Deutschland um 38,5 Prozent gesenkt werden. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern nicht schlecht, gegenüber dem, was das deutsche Klimaschutzgesetz vorsieht, aber deutlich zu wenig. Denn es setzt für das Jahr 2030 eine Zielmarke von 65 Prozent Minderung und gibt für das Jahr 2045 Treibhausgasneutralität als Maßstab vor. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, dass wir den gleichen Minderungsbeitrag, der über rund 30 Jahre erreicht werden konnte, innerhalb der nächsten wenigen Jahre noch einmal erbringen müssen. Also muss sich die Minderungsgeschwindigkeit etwa um den Faktor 4 erhöhen.

Auch, wenn Versorgungssicherheit schon immer Teil des energiepolitischen Zieldreiecks, das heißt einer stets sicheren, sauberen und bezahlbaren Energieversorgung war, haben sich die Gewichte infolge des Krieges offensichtlich verlagert. Die Möglichkeit einer physischen Verknappung von Energieträgern wurde bisher zwar in theoretischen Debatten, aber nicht in der Praxis als relevant beschrieben. Was bedeutet die Akzentverschiebung für den Klimaschutz? Laufen wir sehenden Auges in zentrale Zielkonflikte? Kurz gesagt: Ja und nein. Die gute Nachricht: Der überwiegende Anteil der Klimaschutz-Maßnahmen zahlt positiv auf die Versorgungssicherheit ein und umgekehrt. Dies gilt für die Elektrifizierung der Endenergieanwendungen in Verkehr, Industrie und Haushalten, den Ausbau der erneuerbaren Energien ebenso wie für die Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz als zentrale Gestaltungselemente der Energiewende. Die zweite gute Nachricht: Wir wissen über die Vielzahl der für Deutschland in den letzten Jahren veröffentlichten Transformationsstudien auch in quantitativen Größen relativ genau, was zu tun ist.

Um ein Beispiel für die Dimensionen zu nennen: Die Transformationsstudien gehen davon aus, dass der Strombedarf der Endverbraucher*innen von heute rund 500 Milliarden Kilowattstunden auf zwischen 730 und 820 Milliarden Kilowattstunden bis zum Jahr 2045 ansteigen wird. Die Zielvorgabe Treibhausgasneutralität bedingt dabei, dass dieser Strom aus erneuerbaren Energien beziehungsweise grünem Wasserstoff hergestellt werden muss. Dabei spielt die Onshore- wie Offshore-Windenergie eine ganz zentrale Rolle. Die Bundesregierung hat dies erkannt und in ihrem sogenannten Osterpaket im Jahr 2022 die Ausbauziele für die erneuerbaren Energien drastisch erhöht. Für die Windenergie an Land soll das jährliche Ausbauziel von 5,4 Gigawatt installierte Leistung für 2023 und 2024, über 7,5 Gigawatt bis 2028 auf über 8 Gigawatt pro Jahr ab 2029 erhöht werden – im Vergleich dazu wurde im Jahr 2022 gerade einmal etwa 2 Gigawatt an zusätzlicher Kapazität hinzugebaut. Das Ausbauziel für Windenergie auf See steigt bis 2030 insgesamt auf eine installierte Leistung von mindestens 30 Gigawatt, bis 2035 sollen mindestens 40 Gigawatt und bis 2045 mindestens 70 Gigawatt erreicht werden. Bis Ende 2020 sind rund 8,1 Gigawatt installiert worden.

Klimaschutz und Versorgungssicherheit sind kein Selbstgänger

Inwieweit es gelingen wird, diese ambitionierten Ziele zu erreichen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Dies gilt beispielsweise für die Lösung der Konflikte mit dem Natur- und Vogelschutz, die drastische Verringerung der viel zu langen Planungs- und Genehmigungszeiten sowie die Überwindung der Kapazitätsengpässe im Handwerk.

Für die Lösung der immensen Transformationsherausforderungen im Energiesystem gibt es bisher weltweit keine Blaupause. Hinzu kommt die Notwendigkeit, schnelle Entscheidungen treffen zu müssen. Bei aller gebotenen Eile darf der Zusammenhang mit anderen Herausforderungen aber nicht verloren gehen und müssen Lock-in-Situationen, also Investitionen in Strukturen, die andere Pfadentscheidung später verhindern, unbedingt vermieden werden. Klimaschutz und Versorgungssicherheit – das wird damit klar – sind kein Selbstgänger.

Klimaschutz und Versorgungssicherheit sind aber nicht nur eine nationale Herausforderung, sondern eine globale Gestaltungsaufgabe. Zudem ist diese nur dann erfolgreich umsetzbar, wenn der internationale Rahmen die schnelle und sichere Durchführung nationaler Maßnahmen auch zulässt. Dies gilt nicht nur für die Unternehmen im Land, die vor dem Hintergrund der internationalen Wettbewerbsposition zur Durchführung von Klimaschutzmaßnahmen befähigt werden müssen, sondern auch in Bezug auf die zum Teil sehr restriktiv wirkenden Regeln, die die europäische Ebene vorgibt. Mit einem erweiterten Blick auf die Versorgungssicherheit bedarf es heute stärker als zuvor auch Maßnahmen zur Ansiedlung zentraler Produktionsstätten für kritische Schlüsseltechnologien in Deutschland und Europa, wie etwa Solarzellen, Batterien und Elektrolyseure.

Zu den politischen Aufgaben gehört auch mehr Transparenz und Ehrlichkeit. Es geht bei der Umsetzung der Energiewende auf vielen Ebenen um eine Abkehr von inkrementellen Veränderungen und um die Notwendigkeit struktureller Umstellungen. Um diese gestalten zu können, braucht es einen breiten und ehrlichen gesellschaftspolitischen Diskurs über die notwendigen Maßnahmen und ihre Folgewirkungen. Zusätzlich muss der gesellschaftliche Nutzen immer wieder dargestellt werden. Es bedarf auch proaktiver Maßnahmen, um die potenziellen Verlierer*innen der Umstellungen bei ihrer Neuorientierung zu unterstützen. Am Ende steht und fällt erfolgreicher Klimaschutz aber auch mit der Herausforderung der Überwindung des Präventionsparadoxon. Denn nach wie vor besteht ein großer Unterschied zwischen dem Wissen über die Risiken und Folgen des Klimawandels und der Bereitschaft des schnellen und konsequenten Handelns. Dies gilt für Politik und Wirtschaft genauso wie für uns, die Konsument*innen. Haben wir den Mut jetzt konsequent auf allen Ebenen zu handeln?

Dringend notwendig ist eine deutlich höhere Dynamik auf der internationalen Ebene. Nationale Bemühungen progressiver Länder werden nicht selten konterkariert durch eine klimapolitische Ignoranz von großen Emittenten. Die immensen Schwierigkeiten bei der Umsetzung eines nennenswerten Klimaschutzpaktes in den USA aufgrund der parteipolitischen Spaltung zwischen Demokrat*innen und Republikaner*innen, aber auch aufgrund von Widerständen innerhalb der regierenden demokratischen Partei, die unter anderem auf Einzelinteressen der Bundesstaaten und ein Festhalten an etablierten Strukturen zurückzuführen sind, sind dafür ein gutes Beispiel. Umso wichtiger sind jetzt die klaren Signale, die von der Veröffentlichung des Inflation Redcution Act (IRA) im Herbst vergangenen Jahres ausgehen, das ein Investitionsprogramm in grüne Zukunftstechnologien mit einem Volumen von 370 Milliarden US-Dollar umfasst.

Was braucht es in einer solchen Zeit? Es braucht neue Formen der internationalen Zusammenarbeit. Übergreifende Prozesse, wie die internationalen Klimaschutzverhandlungen unter der United Nations Climate Change Conference (UNFCCC) können aufgrund des Konsensprinzips nur in eingeschränktem Maße Impulse für die notwendige Geschwindigkeit und Komplexität des Umsetzungsprozesses leisten. Das Spannungsfeld besteht damit zwischen der grundsätzlich gewünschten Breite weltweiter Beteiligung und der Langsamkeit internationaler politischer Prozesse. Vorreiterallianzen einzelner Länder oder Branchen (Klimaclubs) könnten hier ebenso Abhilfe schaffen, wie bi- oder trilaterale Partnerschaften. Letzteres umfasst für Deutschland beispielsweise den sukzessiven Aufbau fairer Energie- und Wasserstoff-Partnerschaften mit potenziellen Exportländern und eine enge Abstimmung des Vorgehens in der Europäischen Union.

Der Green Deal Industrial Plan – die passende Antwort?

Mit dem am 1. Februar 2023 veröffentlichen Green Deal Industrial Plan versucht die EU-Kommission eine Antwort auf die beiden Programme zu geben. Dabei steht anders als in den USA keine protektionistische Grundhaltung im Vordergrund, sondern sollen mit vier Säulen die Zeichen in Richtung beschleunigte Umsetzung des Transformationsprozesses gesetzt werden:

  • Vereinfachung der regulatorischen Rahmenbedingungen inklusive der Festlegung von festen Produktionszielen für zentrale Zukunftstechnologien über den Net Zero Industry Act. Allein damit kann von einem Paradigmenwechsel der europäischen Industriepolitik gesprochen werden.
  • Beschleunigung von Investitionen durch zumindest temporär weniger strenge Beihilferegelungen und damit die Möglichkeit, für die Mitgliedsstaaten spezifische Förderprogramme, wie zum Beispiel für Ansiedlung von Unternehmen aufzulegen.  
  • Qualifizierungsoffensive (European Year of skills), um die Unternehmen in die Lage zu versetzen, Veränderungen auch umsetzen zu können.
  • Ausbau der globalen Kooperationsbeziehungen und Verankerung der grünen Transformation in Freihandelsabkommen sowie die Entwicklung eines Critical Raw Materials Club, der den fairen Zugang zu knappen Rohstoffen auf globaler Ebene sichern soll.

Es erscheint aus heutiger Sicht noch unsicher, ob die Maßnahmen der EU mehr als ein wichtiges politisches Signal sind – zumal zunächst nicht vorgesehen ist "frisches" Geld bereitzustellen, sondern insbesondere auf nicht ausgeschöpfte Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zurückgegriffen wird. Zudem sollen viele Detailregelungen erst im Laufe des Jahres 2023 veröffentlicht werden.

Als Industrie- und Technologieland ist Deutschland ganz besonders von der Konkurrenzsituation betroffen und muss sich überlegen, wie die europäischen Maßnahmen seitens des Landes durch eine kluge Industrie- und Standortpolitik flankiert werden können. Als starker Anreiz kann sicher die klare Haltung des Landes gesehen werden, schneller als die EU als Ganzes treibhausgasneutral werden zu wollen und bei der Vernetzung der Akteur*innen entlang der Wertschöpfungsketten sowie dem Aufbau für die Umsetzung der Transformation essentieller Infrastrukturen mithelfen zu wollen. Als weiterer Anreiz könnten staatliche Abnahmegarantien für heimische oder mindestens europäische Produzent*innen implementiert werden.   

Unabhängig davon stellt sich im Moment sicher die Frage, inwieweit der aktuelle Umsetzungswettbewerb zu einer Beschleunigung des globalen Transformationsprozesses führen kann, also sozusagen als Booster wirkt, oder ob eine Bündelung der Kräfte – etwa im Rahmen des gemeinsamen Aufbaus einer globalen Wasserstoffinfrastruktur – deutlich wirkmächtiger wäre. Grundsätzlich ist zunächst aber einmal positiv zu werten, dass die USA sich mit dem IRA nun auch auf der nationalen Ebene gegenüber der notwendigen Ausbaudynamik von erneuerbaren Energien öffnen. Zudem können die hierdurch ausgelösten globalen Investitionen zu einer Innovationsdynamik führen und in der Konsequenz zu technologischen Verbesserungen und signifikanten Kostendegressionen.


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